Neue Studienform liefert Antworten auf alltagsrelevante Fragen

State of the Art

Obwohl wissenschaftliche Studien in der Medizin von grosser Bedeutung sind, spiegeln sie die Realität des Alltags in den ärztlichen Praxen und Spitälern meist nur eingeschränkt wider. Eine neue Form von Studien konzentriert sich nun vermehrt auf die Beantwortung alltagsrelevanter Fragestellungen. Wie an einem Workshop am MS State of the Art Symposium 2024 gezeigt wurde, spielen dabei die Daten, die in der Schweizer MS Kohorte gesammelt werden, eine zentrale Rolle.

Wissenschaftliche Studien, in denen neue Medikamente oder Therapieverfahren untersucht werden, gehören zu den Grundpfeilern der Medizin. Bevor ein neues Medikament auf den Markt kommt, wird es in Studien untersucht, unter anderem in sogenannten randomisierten Studien.

Dabei werden die Teilnehmenden per Zufallsprinzip (= randomisiert) einer von zwei Gruppen zugeordnet. Eine Gruppe wird dann mit dem einen Therapieverfahren (zum Beispiel einem neuen Medikament), die andere mit einem anderen Therapieverfahren (in besonderen Fällen auch mit einem Scheinmedikament, einem sogenannten Placebo) behandelt. Diese Vorgehensweise ermöglicht es, die Vor- und Nachteile der Therapieverfahren miteinander zu vergleichen.

Alltag wird unzureichend abgebildet

Aus der Sicht einer betroffenen Person wäre es vor allem relevant zu wissen, ob ein neues Therapieverfahren besser ist als das bisher verwendete. Bisher können jedoch oft nur Personen an Studien teilnehmen, die bestimmte vordefinierte Kriterien erfüllen. So sind zum Beispiel Menschen über 65, Personen mit mehreren Vorerkrankungen und auch Schwangere nie oder nur ganz selten in solchen Studien vertreten. Dann widerspiegeln solche Studienpopulationen nicht die grosse Vielfalt an Personen mit den unterschiedlichsten Krankengeschichten, die eine Ärztin oder ein Arzt tagtäglich in der Praxis betreut.

Studien mit alltagsrelevanten Resultaten

PD Dr. med. Lars Hemkens vom Forschungszentrum für klinische Neuroimmunologie und Neurowissenschaften (RC2NB) in Basel sprach sich daher für «pragmatische» Studien aus. «Pragmatisch bedeutet, dass solche Studien Dinge erforschen, die für den praktischen Alltag wirklich relevant sind», erklärte er.

Um dies zu erreichen, fliessen in solche Studien zum Beispiel Informationen ein, wie Menschen mit einer bestimmten Erkrankung in der täglichen Praxis behandelt werden und wie sich die verschiedenen Therapien auf den weiteren Krankheitsverlauf auswirken. «So erkennen wir, welche Behandlungsstrategie in einer bestimmten Situation die bessere ist. Das zukünftige therapeutische Vorgehen kann dann entsprechend angepasst werden», sagte er.

MultiSCRIPT: pragmatische Studie bei MS

Der zweite Redner des Workshops, Prof. Dr. med. Özgür Yaldizli, ebenfalls vom RC2NB, Basel, stellte im Anschluss mit MultiSCRIPT die weltweit erste landesweite, auf dem Gebiet der MS laufende pragmatische Studie vor. MultiSCRIPT untersucht, ob eine neue personalisierte Behandlungsstrategie besser ist als das bisher verwendete Standardvorgehen. Als Basis dienen die Daten der MS-Betroffenen, die im Rahmen der Schweizer MS Kohorte (SMSC) kontinuierlich gesammelt werden.

Dazu gehören unter anderem die Resultate von bildgebenden Untersuchungen und Auswertungen von Blutproben. «Der grosse Vorteil ist, dass wir die Betroffenen nicht extra aufbieten müssen. Wir können einfach die Ergebnisse der üblichen Kontrolluntersuchungen bei den behandelnden Ärztinnen und Ärzten verwenden, sofern die Betroffenen ihr Einverständnis dazu gegeben haben», erklärte Prof. Yaldizli.

Die erste Aufgabe von MultiSCRIPT ist nun aufzuzeigen, ob die Bestimmung des Spiegels der Neurofilament-Leichtketten im Blut von MS-Betroffenen (als Zeichen von Nervenschäden im zentralen Nervensystem) dazu genutzt werden kann, die Krankheitsaktivität und die Lebensqualität positiv zu beeinflussen: Die Therapie kann dazu abhängig vom ermittelten Wert entweder intensiviert oder reduziert werden.

«Nach dreieinhalb Jahren werden wir wissen, ob dieses Vorgehen von Nutzen ist und zum Standard werden soll», so Prof. Yaldizli. Damit wird MultiSCRIPT zu einem «lernenden» System, in dem die gewonnenen Erkenntnisse in die tägliche Praxis einfliessen. Im Anschluss an die Beantwortung dieser ersten Aufgabe wird MultiSCRIPT dazu eingesetzt werden, weitere vielversprechende und praxisrelevante Fragestellungen zu untersuchen.

«MS State of the Art Symposium»

Das «MS State of the Art Symposium» ist der bedeutendste Fachkongress zum Thema Multiple Sklerose in der Schweiz und wird von der Schweiz. MS-Gesellschaft und ihrem Medizinisch-wissenschaftlichen Beirat organisiert. 2024 fand das Symposium am 27. Januar im KKL Luzern statt.

MS State of the Art Symposium 2024